Textengineering an der Schnittstelle von emotionaler und digitaler Intelligenz.
„Wieso schreibst du eigentlich“, fragte mich kürzlich eine Kollegin. „Liegt doch auf der Hand, ist mein Job, Teil meines ökonomischen Systems.“ „Das meine ich nicht, ich möchte wissen, was dich antreibt?“ „Schreiben ist eben meine Leidenschaft, so was wie eine Berufung.“ Klang pathetisch, hatte aber was Authentisches. „Für Unternehmen eine Sprachidentität zu entwickeln, das fasziniert mich eben. Das ist Tüftlerarbeit, kreatives Engineering.“ „Allerdings hat sich die Kreativarbeit in den letzten Jahren verändert,“ fügte ich in einem Nachsatz hinzu. „Die Digitalisierung wirft ihre Schatten.“
Der Wandel der Sprache
In diesem Moment dachte ich daran, wie die Industrie 4.0 die kreativen Prozesse und ihre Instrumente verändert hat. Die Technik gibt den Takt vor für Sprachmodellierungen, Sprachbilder, die Konstruktion semantischer Kontexte, für Formate der Unternehmenskommunikation. Sie bestimmt die Art der Annäherung an den Kunden. Durchaus ein Gewinn für die Kommunikation! Das spekulative Restmoment in der Zielgruppenansprache weicht datenevaluierten Bedürfnis- und Persona-Profilen. Gut für die Conversions, was sich auch auf das Kommunikationsmanagement auswirkt. Unternehmen haben die Kontrolle der Informationshoheit auf das Kollektiv der Web-2.0-Märkte übertragen (vgl. Kommunikation und Technik, 2018).
Die Fokussierung auf rationale Botschaften
„Sprache ist falsch, wenn sie an den Tatsachen vorbeizielt,“ schrieb Ludwig Wittgenstein in seinem berühmten Logico tractatus philosophicus. Ein Traktat mit Folgen. Es löste den „Lingustic turn“ in der Philosophie aus. Aus der abstrakten Philosophie wird die Sprachphilosophie. Im digitalen Marketing findet sich die Wittgenstein`sche These in Form der Kundenzentrierung wieder. An der Messung des Wirkungs- und Reichenweitengrades von Storys, von individuellen Content- und Sprachprodukten entlang der Wirklichkeit des Konsumenten lässt sich ablesen, wie nah das Marketing an den „Tatsachen der Empfänger“ ist. Verständlich, dass Unternehmen Budgets hin zu digitalen Medien verlagern, die „mit der Fokussierung auf rationale Botschaften und dem Einsatz von Messverfahren einhergehen, die den unmittelbaren Wirkungsnachweis von Kampagnen fokussieren“.
Kreativarbeit Bottom-up – wenn der Freitag mehr ist als nur ein Wochentag
Als Umschlagplatz für Dialoge und Informationen stehen der Markeninszenierung mit den sozialen Medien erweiterte kreative Spielräume für spezifische narrative Funktionen pro Kanal zur Verfügung. Ein rezeptionsästhetische Spracherlebnis, wie es solche Sprachbilder wie „Schweiß fließt, wenn Muskeln weinen“(Hornbach) als Bild-Text-Mechanik auslösten, wird im komplexen, digitalen Medienumfeld Teil eines multimedialen Gesamterlebnisses. Wodurch sich die Präferenz der Sprache verschiebt. Kreativität ist kein Privileg der Kommunikationsbranche. Auch die Kreativarbeit 2.0 verschafft sich Aufmerksamkeit – aus der Gesellschaft und dem Produktionsumfeld der sozialen Medien dringt sie in die öffentliche Wahrnehmung. „Schulstreik fürs Klima“ reichte als Slogan und PR-Effekt, um eine Person und ihre Bewegung zu einer globalen Marke zu machen. Greta und Klima, eine Sprach-Symbiose mit nachhaltiger Wirkung. Und wer denkt bei Freitag heute nicht an Future?!
Smartphones auf vier Rädern – Abschied vom Ingenieur Automotive
Überhaupt, die Zukunft! Wie werden sich Kommunikation und Sprachästhetik entwickeln, wenn die Automobilindustrie die Transformation in die Elektromobilität vollzogen hat? Konsumgüter abgestimmt auf den kollektiven Wunsch nach einer verantwortungsvollen CO2-neutralen Zukunft, aber auch austauschbarer, weil die Mobilitätsprodukte homogener werden. Was erwartet die Empfänger? Storys über SmartPhones auf vier Rädern oder das 3D-Erlebnis in mobilen Kommunikationszentralen mit alternativer Antriebstechnologie? Inwieweit trägt das E-Auto noch die Handschrift eines Ingenieurs? Welche Differenzierungsmerkmale bieten sich über Ladezeiten, universelle Ladestecker oder Reichweiten hinaus an?! Modellreihen, Motoren, Newtonmeter – das ist für nachhaltig gebrandete Zielgruppen ein Content-Stoff der Vergangenheit. Das Ingenieursauto, nur noch Geschichte? Kommunikation 4.0 appelliert mehr an die Ratio, als dass sie die emotionalen Trümpfe der Markenfaszination ausspielte. Weihnachtsspots mit Storylines von Diversität, glücklichen Familien und Integration der alternden Gesellschaft, die ansonsten im Seniorenheim hockt, sind gut gemacht. Und gut gemeint. Als pädagogischer Impuls mögen sie funktionieren. Doch zünden sie auch?
Das Herz ist der Ort der Begierde. Oder warum
Spiegelneuronen keine AI-Systeme mögen.
Wenn Digitalisierung und KI individuelle Angebote über jeden Kanal, an jedem Touchpoint und gut getimt absetzen können, läuft die Werbesprache Gefahr, selbst zur Ware zu werden – als ausführendes Organ eines intelligenten Systems. Ob die Empfänger sich allein mit funktionellen, salestreibenden Sprachprodukten zufriedengeben? Die Chancen stehen gut, dass sie am Anspruch der Spracherlebnisqualität festhalten. Nach der „Theory of mind“kann der Mensch die Emotionen anderer erkennen und verstehen, und daraus Schlussfolgerungen auf die Absichten anderer ziehen. Spezielle Nervenzellen im Gehirn, die Spiegelneuronen, ermöglichen das. Doch „Spiegelneuronen verweigern ihre spezielle Aktivität, wenn die beobachtete Handlung nicht von einem lebenden Individuum ausgeführt wird, sondern von einem Apparat.“ Das spricht für kreative Ideen und sprachliche Inszenierungen, die das Spektrum menschlicher Emotionen aufziehen. Die Sprache ist ein Existenzial, und „das Herz ist der Ort der Begierde,“ wie der französische Strukturalist Roland Barthes in dem bemerkenswerten Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ schreibt. Darin spielt er Paradigmen der „Lust am Text“ durch – Diskurse, Sprach- und Bedeutungsstrukturen, die von Liebe, Sehnsucht, Leidenschaft, Begierde, von Berührung, Sehnen und Zuneigung in Literatur und Kunst handeln. Ein Appell an Content- und Sprachingenieure: an der Schnittstelle von kreativer und digitaler Instrumentalisierung der Sprache rationale, unterhaltsame und den Tatsachen des Konsumenten entsprechende Inhalte und Storys aufzuziehen. Und das emotionale Potenzial von Marken im Textdesign zu verwerten.
Nota bene
Im strategisch-kreativen Prozess des Sprach-Engineerings modelliere ich aus dem Rohstoff des Selbstverständnisses eines Unternehmens die Identität der Corporate Communication. Workshops, Interviews, Audits sind einige der Instrumente, die ich einsetze.
Titelbild:
iStockphoto
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