Abschied vom Status Quo.
„Die Pandemie-Krise ist eine Chance,“ war und ist vielerorts zu lesen. Ist das wirklich so? Und wenn ja, wofür und für wen? Nach Einschätzung des Handelsverbands Deutschland werden rund 50.000 Geschäfte im Einzelhandel schließen müssen, und das Ladensterben trifft mittlerweile auch die Großstädte. Weit über 150 Mitgliedsländer des Internationalen Währungsfonds stecken bereits in der Rezession. Die Wirtschaftsleistung in der Eurozone bricht um 8,8% ein, so die Prognosen. Gehören auch diese Zahlen zum Chancenpotenzial?
The New Normal gibt die Richtung vor.
Die Worst-Case-Skala ließe sich weiter fortsetzen und man muss kein BWL-er sein, um Bedeutung und Auswirkungen der Corona-Krise für Wirtschaft, Gesellschaft und das Zusammenleben zu begreifen. Wir alle stecken in einem Paradox. Lösungs- und Präventionsmaßnahmen treffen gleichermaßen auf Akzeptanz und Abwehr, auf Rationalität und Emotionalität, und eine Sehnsucht nach dem „Status Quo“ der Prä-Pandemie-Phase bricht auf. Den aber gibt es nicht mehr, wie die Puristen der Krise lehren. Eine Hermeneutik des „New Normal“ dehnt sich von der Ökonomie bis zur virtuellen Organisation gruppendynamischer Corporate-Prozesse aus. Doch nichts an dem „neuen Normalen“ ist wirtschaftlich normal. Nicht für die Reisewirtschaft, Gastronomie, Kulturszene, Messegesellschaften, Eventfirmen, Agenturen, unternehmensbezogene Dienstleistungen, Verkehr und Lagerei oder Groß- und Einzelhandel.
Jeder ist für jeden eine potenzielle Gefahr, oder doch nicht? Der Streit der Wissenschaft.
Shut-down, Lock-down, Corona-Maßnahmen sind ein ungeliebtes, aber notwendiges Arrangement mit der neuen virologischen Wirklichkeit. Die Wenigsten begreifen diese als Rohstoff oder Chance für neue Geschäftsmodelle, Wachstum und Produktivität. Business as usual, Arbeitnehmeralltag, kulturelles und öffentliches Leben wurden im existenzialistischen Sinne des Wortes „geworfen“ in den Inkubator des Rückzugs – Home-Office, Home Schooling, Home-Kita. Traumatisierungen und Spätschäden für Kinder und Schüler, mahnen Psychologen, unvermeidlich propagieren Virologen. Ich muss zugeben, mir eine eindeutige, wissenschaftlich fundierte Meinung zu bilden, fällt schwer. Empirisch betrachtet, scheinen die Distanz- und Masken-Maßnahmen zu greifen, gemessen an den vielfältigen KPI des RKI und der Johns-Hopkins, wie dem situativ unterschiedlich einzuschätzenden Reproduktionsfaktor.
Das „Social Distancing“ ist eine Herausforderung. Eine Verhaltensregel, die zum Verhaltensmuster mutiert und eine gewisse „Leibfeindlichkeit“ entwickelt. Abstand dient zwar dem Gemeinwohl (u. a. wegen der Aerosole), widerspricht nach dem Sozialpsychologen Gerald Echterhoff jedoch unseren Verhaltensweisen als „ultrasoziale Spezies“. Zusammenrücken in Krisenzeiten, das geht nicht. Rückzug schwächt auch das WIR-Gefühl, den kollektiven Sinn.
Nähe ist sozial, Distanz a-sozial.
Der französische Philosophen Maurice Merlau-Ponty stellte in seinen Studien über die „Leibphänomenologie“ die Bedeutung der leiblichen Erfahrung für das Selbst- und Weltverhältnis in den Mittelpunkt seiner phänomenologischen Forschung. Nach ihm führt eine rein reflexive, abstrakte Einstellung und Beziehung zur Welt zu Wahrnehmungs- und Empfindungsstörungen, da sie die leibliche Interaktion mit dem Leben ausklammert. Ob Menschen einen Draht zueinander haben, jemand Charisma hat, inspiriert oder motiviert, setzt Nähe und Demaskierte voraus. Neuere soziologische Studien bewerten den Körper als Objekt und Instrument zur Durchsetzung individueller sowie kollektiver Interessen und Machtansprüche. Inwieweit die virtuelle Führung eine ähnliche Wirkung hat, wie die „leibliche Präsenz“, muss sich statistisch noch zeigen, wenn die Effekte des Home-Office und der digitalen Interaktionen ausgewertet sind.
Der Verlust der „Sonderstellung des Menschen in der Welt“.
Kommunikation in den antiviralen, bakterienfreien Raum des Virtuellen zu verlagern, kann nur eine Übergangslösung sein. Nach über 200 Stunden Teams-, Go-to-Meeting und Skype-Meetings mit Kunden, Projektgruppen und Entscheidern muss ich feststellen, das Artifizielle, die Simulation der Begegnung, ist zwar effektiv, aber ebenso hat sie etwas Antiseptisches. Der Wunsch, endlich mal wieder jemandem die Hand zu schütteln, eine haptische Verbindung zum Du herzustellen, lässt sich auf Dauer nicht aus dem Business ausgrenzen. Insofern hoffe ich auf eine „neue, alte“ Normalität der „Nähe“.
Der Widerspruch der Freiheit.
Die Pandemie hat die „Sonderstellung des Menschen in der Welt“ (Max Scheler) vorübergehend aufgehoben. Aber auch bewährte Krisenmanagementszenarien. Wir müssen uns diese Welt in verantwortlicher Weise neu aneignen. Der soziale Imperativ der Vernunft, sich zum Wohle aller mit den Corona-Maßnahmen zu solidarisieren, ist Einsicht in Notwendigkeit. Andererseits fordert ein Verständnis von Freiheit ihr Recht. Doch, ist es rechtens und vernünftig, wenn dieses Verständnis zugleich die Gefahr in sich birgt, dass die „Freiheit“ von Party-Meilen, Demonstrationen und Versammlungen wieder in Unfreiheit mündet – in Einschränkungen, Ausgangssperren u.ä.m. wegen steigender Infektionszahlen?! Ein Paradox, das wohl erst die Pharmakologie und Medizin wird auflösen können. Bis dahin heißt es ganz im Sinne Rousseaus, einen neuen „Gesellschaftsvertrag“ der Vernunft zu schließen. Einen Anspruch auf objektive Wahrheit kann niemand erheben, solange die Infektionswege nicht evaluiert wurden. Bis dahin muss die Wissenschaft weiterhin von Hypothesen ausgehen, selbst wenn die Zunft sich darin nicht einig ist.
Home-Office oder das Kloster in mir.
Wenn schon abschotten, warum dann auch nicht mal etwas aus der monastischen Ecke lesen. Mönche kennen sich mit dem Zustand des Allein- und Für-sich-Seins am besten aus. Jeder für sich und doch vereint im Glauben und Gebet. Ich lese (wieder einmal) Thomas Mertons „Im Einklang mit sich und der Welt“ (Diogenes Verlag, 1987). Wer seine Wesens- und Markenqualitäten erkennen will, findet in diesem Buch hinreichend Inspirationen. Einer der hervorstechenden Sätze: „Das kontemplative Leben ist eine Dimension unserer subjektiven Existenz. Es zu entdecken heißt, sich selbst neu entdecken. Man kann sagen, dass es das Aufblühen einer tieferen Identität auf einer neuen Ebene ist, einer anderen Ebene als die einer bloßen psychologischen Selbsterkundung, eine paradoxe neue Identität, die nur findet wer sich aus den Augen verliert, Sich finden, indem man sich verliert: das ist Teil der Kontemplation.“ (ebd. S. 197). Im Klappentext heißt es zu diesem Buch Schule der Einsamkeit. Einsam fühlte ich mich so manches Mal in dieser Ausnahmesituation, besonnen habe ich mich dauerhaft.
Rasanz versus Langsamkeit – auf Datenflows kann man echt neidisch werden.
Unbeeindruckt von der derzeitigen, globalen Langsamkeit powern digitale Kanäle und Werkzeuge Daten in gewohnter Rasanz durch das Netz. Sie bleiben unbeeindruckt vom „Stillstand der Welt“. In Ulrich Raulffs fantastischem Buch „Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung“ lese ich, dass zu Zeiten der Postkutsche die Fahrzeit von Frankfurt nach Stuttgart 40 Stunden betrug – inklusive Rastzeiten an 14 Orten. Goethes „Italienische Reise“ muss also eine Ewigkeit gedauert haben. Im Zeitalter der Supercomputer mit Petaflops Rechenleistungen von 10 hoch 15 Fließpunktoperationen pro Sekunde vermittelt die Drosselung der gewohnten Geschwindigkeit, wie relativ doch das Zeitempfinden sein kann.
Neues Mindset, neues Denken.
Vielleicht war und ist genau das die größte Herausforderung an Lock-down und den Corona-Maßnahmen, – das Zeiterleben. Das Zurückgeworfen-sein auf sich selbst, das Außer-Kraft-Setzen des gewohnten Tuns, den Tag mit einem neuen oder anderen Sinn aufladen zu müssen. Das ist annehmbar. Der Verlust an Wirtschafts- und Finanzkraft allerdings weniger. Diese ganze Situation neu und aus einem anderen Blickwinkel bewerten, Standards und Methoden hinterfragen, Einstellungen überprüfen – das ist die Herausforderung, die ich persönlich aus dieser Zeit mitnehmen. Und nie fand ich John Naisbitts Begriff „Mindset“ passender als heute.
Bildquelle: iStockphoto
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